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Treffen der Deutschen Gruppe des Scientific and Medical Network, 9./10. Dezember 2000, Hexentanzplatz, Harz

Die Evolution des Bewusstseins im Tierreich

 Dr. Stephan Krall

Vorbemerkung

Bei Durchsicht der Literatur über das Bewusstsein stellt man fest, dass sich ein Großteil fast ausschließlich oder ausschließlich mit dem Menschen beschäftigt. Am ausgeprägtesten ist dies von Seiten der Philosophie, aber auch bei Naturwissenschaftler findet man selten eine eingehendere Beschäftigung mit der Evolution des Bewusstseins im Tierreich. Wenn überhaupt geschieht dies in Bezug auf die menschliche Evolution (Eccles 1999). Über die östlichen Ansätze zum Bewusstsein kann ich keine fundierte Aussage treffen, habe aber den Eindruck, dass auch dort der Mensch im Mittelpunkt steht.

Es soll deshalb in diesem Beitrag versucht werden, Bewusstsein als etwas zu beschreiben, das in der Evolution genauso entstanden ist, wie die Fähigkeit zu fliegen oder chemische Meisterleistungen zu vollbringen bei den Mikroorganismen. Offen lasse ich dabei, ob Leben auf der Erde entstanden ist oder, wie dies von Anhängern der Panspermie vertreten wird, auf die Erde gelangte (Crick 1982, Hoyle & Wickramasinghe 2000).

Speziell wird eingegangen auf die Frage, wo im Tierreich Bewusstsein vorhanden ist und in welcher Ausprägung. Warum Bewusstsein im Pflanzenreich, bei den Pilzen und niederen Organismen wahrscheinlich nicht vorhanden ist, wird kurz gestreift.

Auf der Suche nach dem Bewusstsein

Fangen wir dennoch, trotz obiger Aussagen, erneut beim Menschen an. Ohne hier näher darauf einzugehen, was Bewusstsein ist, stelle ich die Frage, ob es einen Sitz des Bewusstseins im menschlichen Körper gibt? Auf die naheliegende Antwort, dass es natürlich das Gehirn sei, kommen sicherlich sofort Einwände. Selbst wenn man zugesteht, dass das Nervensystem eng mit dem Bewusstsein verknüpft ist, könnten ja neuere Forschungen, die vom einem Bauchgehirn sprechen, auf andere Stellen im Körper hinweisen (Luczak 2000). Dennoch gibt es eine starke Evidenz für das Gehirn als Sitz des menschlichen Bewusstseins. Verdeutlicht werden kann dies ebenso grausam wie einfach. Der Mensch kann bei einem Autounfall Gliedmaßen verlieren, solange das Hirn nicht geschädigt ist, verfügt er weiter über ein Bewusstsein und ein Selbstbewusstsein. Es können Organe operativ entfernt werden oder auch neue implantiert, der Mensch hat weiterhin das selbe Bewusstsein wie vorher. Und, um auf das Bauchgehirn zu kommen, ein Mensch kann vom Kopf an querschnittsgelähmt sein und dennoch empfindet er sich selbst bewusst.

Umgekehrt ist es aber so, dass Schädigungen des Hirns zum Verlust des Selbstbewusstseins führen können und auch des Bewusstseins. Möchte man dem Bewusstsein also einen Körperteil zuordnen, so ist es ziemlich eindeutig das Gehirn.

Die Rolle des Nervensystems

Das Gehirn ist der komplexeste Teil des Nervensystems. Das menschliche Nervensystem besteht aus Milliarden von Nervenzellen (=Neuronen). Diese sind sehr verschieden gestaltet, wesentliche Elemente sind aber Fortsätze, die Axonen und Dendriten. Axonen bilden mit Dendriten von anderen Nervenzellen, aber auch von Körperzellen, Synapsen, also eine Art Kopplung (Abb. 1). Nervenzellen leiten Erregung oder Impulse weiter und sind damit für die Übertragung von Informationen zuständig. Dies war im Tierreich notwendig geworden, um auch in komplexeren Organismen (Vielzellern = Metazoen) schnell eine Koordination zu erreichen. Wichtig für unsere Betrachtung ist, dass zwischen den sensorischen Nervenzellen, also denen die Reize aufnehmen, und den motorischen Nervenzellen, also denen, die motorische Reaktionen auslösen, ein interneuronales Netzwerk existiert, das Informationen verarbeitet, bevor es sie weitergibt. Im Falle des Menschen ist das Gehirn ein solches gigantisches interneuronales Netzwerk. Die Relation von sensorischen Nervenzellen zu den interneuronalen des Gehirns und motorischen ist 10 : 100 000 : 1. Es ist also beim Menschen zwischen die Aufnahme von Reizen und die Auslösung von Reaktionen ein riesiger Apparat, das Gehirn, zwischengeschaltet.

Wenn wir nun dem Gehirn eine zentrale Rolle in Bezug auf das Bewusstsein zugestehen, so müssen wir bei der Frage der Entstehung des Bewusstseins zurückblicken, wie das Nervensystem entstanden ist, und wann Bewusstsein erstmalig aufgetaucht sein könnte.

Der Stammbaum des Lebens

Die heute am weitesten verbreitete Vorstellung der Systematik von Lebewesen geht von fünf Reichen aus, den Monera (Bakterien), den Protoctisten (kleine Ein- oder Mehrzeller mit echtem Zellkern), den Pilzen, den Tieren und den Pflanzen (Margulis 1993) (Abb. 2). Bei den Bakterien und anderen Einzellern ist die Übertragung von Informationen aufgrund der geringen Abmessungen noch keine Problem. Erst bei Mehrzellern trat das Problem auf, dass Information nicht schnell genug über die Zellen übertragen werden konnte und somit ein spezieller Zelltyp notwendig wurde, die Nervenzellen. Eines der einfachsten Nervensysteme hat der zu den Hohltieren (Cnidaria) gehörende bis 2 cm große Süßwasserpolyp Hydra sp. Die Cnidaria gehören zum Reich der Tiere (Animalia). Bei weiter entwickelten Tieren, z.B. Ringelwürmern treten dann Ganglien auf, das sind Anhäufungen von  Nervenzellen in verschiedenen Teilen des Körpers im Sinne der o. g. interneuronalen Netze. Bei höher entwickelten Insekten, z.B. den Bienen, findet sich dann ein sog. Zentralganglion, d.h. eine Konzentration von Nervenzellen in einem Punkt, das auch als Gehirn bezeichnet werden kann (Abb. 3 a-c). Entwicklungsgeschichtlich findet sind erstmalig bei den Kopffüßlern, speziell bei den Tintenfischen, eine einmalige Konzentration der Nervenzellen in Form eines Komplexgehirn. Bei den Wirbeltieren schließlich gibt es ein sehr spezifisch ausgeprägtes Nervensystem, das über ein Komplexgehirn am Kopfende verfügt und ein Rückenmark im Wirbelkanal, das Informationen zu allen Körperteilen von diesem Gehirn aus weiterleitet.

Wenn wir also ein komplexes Gehirn als physische Grundlage für die Ausbildung von Bewusstsein annehmen, so sollte ein solches auf jeden Fall bei den Wirbeltieren zu finden sein, eventuell bei den Kopffüßlern und vielleicht auch bei sozialen Insekten. Nervenzellen gibt es nicht bei den beiden anderen hoch entwickelten Reichen, den Pilzen und Pflanzen. Ich möchte hier allerdings nicht näher auf die Ausführungen von Tomkins und Bird (1995) eingehen, die bereits vor über 25 Jahren Erstaunliches von Pflanzen berichtet haben. Dazu müsste die Nervenzelle als Grundlage für kognitive Fähigkeiten grundsätzlich in Frage gestellt werden und das sollte in einem gesonderten Beitrag geschehen.

 Wenn wir uns also aus dem Stammbaum des Lebens gesondert den Stammbaum der Tiere anschauen, wird deutlich, dass nur in einem kleinen Teil komplexe Gehirnstrukturen zu finden sind (Abb. 4).

Bewußtsein im Tierreich

Wenn wir also nach Bewusstsein im Tierreich suchen, sollten wir uns aufgrund obiger Schlussfolgerungen zwei Gruppen näher anschauen, die Kopffüßler und die Wirbeltiere. Ich werde aber auch einen Exkurs zu den sozialen Insekten machen.

Fangen wir bei den Wirbeltieren an, denn hier ist Bewusstsein bekannt. Die Wirbeltiere unterteilen sich in fünf Gruppen (Abb. 5):

Die älteste Gruppe sind die Fische, die sich evolutiv über Amphibien zu Reptilien und somit den Landlebewesen entwickelt haben. Obwohl sich zwischen wechselwarmen Tieren und Warmblütern fließende Übergänge befinden, kann man nur die Vögel und die Säugetiere als echte Warmblüter[1] bezeichnen, d.h. Tiere, die ihre Körperkerntemperatur stabil halten und nicht von der Umgebungstemperatur abhängig sind.

Bei Durchsicht der Literatur bemerkt man, dass sich Untersuchungen zu Bewusstsein auf Vögel und Säugetiere konzentrieren und auch bisher nur hier gesicherte Erkenntnisse finden, dass es graduell unterschiedlich ausgeprägte kognitive Fähigkeiten gibt und ein Bewusstsein angenommen werden kann. Ist also Bewusstsein an die physischen und physiologischen Faktoren Komplexhirn + Warmblütigkeit gekoppelt? Dieser Schluss ließe sich natürlich ziehen. Andererseits werden natürlich Untersuchungen meist mit solchen Tieren gemacht, die relativ einfach zugänglich sind. Es gibt keine mir bekannten Untersuchungen an Tintenfischen.

Eine Schwierigkeit besteht weiterhin darin, dass man letztendlich nie mit Sicherheit sagen kann, ob ein Tier tatsächlich Bewusstsein oder gar Selbstbewusstsein hat. Angesichts der Tatsache, dass sich kognitive Fähigkeiten und (Selbst)bewusstsein mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Evolution herausgebildet haben, kann man von graduellen Abstufungen ausgehen. Insofern wird häufig auch wechselseitig von kognitiven Fähigkeiten und Bewusstsein gesprochen. So habe ich einen Hinweis gefunden, dass auch Fische und sogar Ameisen und Honigbienen Bewusstsein oder absichtsvolles Handeln besitzen (Griffin 1985).

Zu dem Thema Honigbienen machen Gould & Gould (1997) interessante Ausführungen. Gerade Honigbienen sind verhaltensmäßig mit die best untersuchtesten Lebewesen, was sicherlich durch ihre ökonomische Nutzung bedingt ist. Karl von Frisch hat diesbezüglich über Jahrzehnte Bahnbrechendes geleistet (von Frisch 1965). Es würde hier zu weit führen, die vielen gut belegten Beispiele aufzuführen, aber gerade bei der Orientierung leisten Honigbienen Erstaunliches. Nicht nur, dass sie durch den bekannten Schwänzeltanz Futterquellen Artgenossen mitteilen können, in dem auch die Informationen über Qualität und Quantität enthalten sind. Sie passen diese Information auch den verschiedensten klimatischen und räumlichen Bedingungen spontan an. Von Frisch teilte bereits 1946 kühn mit, dass Honigbienen wohl über das zweitkomplexeste Kommunikationssystem nach den Menschen verfügen.

Aber nicht nur darin sind Honigbienen erstaunlich. Es gibt auch einen berühmten Fall, wo Bienen, die an einen extrem warmen Ort in Italien verfrachtet wurden, ihrem Wachs kittartige Substanzen beimischen, um den Schmelzpunkt zu erhöhen.

Soziale Insekten, zu denen Honigbienen gehören, haben verglichen mit anderen Insekten, selbst wenn sie evolutiv sehr weit entwickelt sind wie Fliegen, einen beträchtlich höheren Anteil an überschüssigem Hirngewebe. Dieses könnte sich durchaus zu dem Zweck entwickelt haben, Probleme zu lösen, die auf zielgerichteten Strategien beruhen -  Strategien, die eine Ebene kognitiver Raffinesse erfordern, die weit über das hinausgehen, was sich die meisten Wissenschaftler vor nicht weniger als zwei Jahrzehnten bei Wirbellosen vorstellen konnten. Allerdings sei hier angemerkt, dass wenn man Honigbienen absichtsvolles Handeln unterstellt, man angesichts ihrer relativen Hirngröße und wechselwarmen Lebensweise auch vielen anderen Lebewesen im Tierreich dieses unterstellen könnte.

Funktion des Bewusstseins

Wie bereits oben gesagt, gibt es unter der Annahme, dass kognitive Fähigkeiten und Bewusstsein evolutiv entstanden sind, graduelle Abstufungen. Es gibt Wissenschaftler, die annehmen, dass Bewusstsein auch mehrfach unabhängig voneinander entstanden sein könnte (Gould & Gould 1997). Allerdings haben wir gesehen, dass dies im Tierreich offenbar an wenigen Stellen stattfand: Säuger, Vögel, vielleicht Fische, möglicherweise Tintenfische und zumindest nährungsweise soziale Insekten. Vielleicht waren auch Dinosaurier und Therapsiden bewusste Tiere, wir wissen es nicht. Immer scheinen kognitive Fähigkeiten und Bewusstsein mit komplexen Gehirnen verbunden oder zumindest überschüssigem Hirngewebe. Wie weit soziales Verhalten korreliert ist, möchte ich nicht abschließend beurteilen, aber auch das scheint der Fall zu sein. Was ist also die Funktion des Bewusstseins?

Viele Naturwissenschaftler fassen kognitive Fähigkeiten und Bewusstsein als eine Eigenschaften auf, die für bestimmte Tiere zu bestimmten Zeiten nützlich gewesen sind und sich deshalb herausgebildet haben. So ist es z.B. augenscheinlich, dass es für die Hominiden sinnvoll war, neben dem Komplexgehirn auch ein Selbstbewusstsein zu entwickeln, während sich bei den von den gleichen Vorgängern abstammenden Menschenaffen nur ein wesentlich einfacheres Bewusstsein herausgebildet hat. Offensichtlich benötigten die in den Wäldern lebenden Affen keine so ausgeprägten kognitiven Fähigkeiten wie die Menschen. Gleiches gilt für die sozialen Insekten im Vergleich zu ihren solitären Verwandten. Gould & Gould (1997) versuchen ihre Leser auf den Boden der Realität herunterzuholen, indem sie behaupten, dass es im Tierreich die phantastischsten Anpassungen an die jeweilige Umwelt gab und gibt, von denen kognitive Fähigkeiten in Verbindung mit Sprache bei den Menschen nur eine war. Diese verdient nicht höhere Wertschätzung als die vielen anderen Mechanismen, sich im auf dieser Erde zu behaupten. Ich habe für diese Auffassung ein großes Verständnis und bin ebenfalls überzeugt, dass die herausragende Stellung, die wir uns unter den Lebewesen zubilligen, maßlos überschätzt ist.

Dass Bewusstsein und seine höchsten Ausprägung in Form von Selbstbewusstsein etwas faszinierendes ist, vor dem wir immer wieder staunend stehen, ist nachvollziehbar und auch wunderschön, denn es ermöglich ja erst, dass diese Zeilen geschrieben und gelesen werden. Andererseits wird jeder, der sich mit Leben intensiver beschäftigt des Öfteren mit offenem Mund staunend schweigen angesichts der phantastischen Leistungen, die dieses in den Jahrmilliarden sein seiner Existenz auf der Erde hervorgebracht hat.

Schlussgedanken

Kognitive Fähigkeiten, Geist, Bewusstsein, Selbstbewusstsein sind faszinierend und es wird noch viel darüber geforscht und philosophiert werden. Dieser Beitrag versucht dafür einen Rahmen abzustecken, den man mit einbeziehen sollte, wenn man sich aus welcher Sicht auch immer mit diesem Thema beschäftigt. Wie Bewusstsein entsteht, welches die immateriellen Aspekte sind, wurde in diesem Beitrag nicht behandelt, stellt aber ein extrem interessantes Forschungsgebiet dar. Dies zeigt besonders die Zerrissenheit des Nobelpreisträgers Eccles (1993), der auf fast 400 Seiten zu zeigen versucht, dass sich Bewusstsein naturwissenschaftlich ableiten lässt und quantenphysikalisch sogar das Gehirn steuern kann, um dann auf den letzten zwei Seiten zu sagen: „Da unsere erlebte Einmaligkeit mit materialistischen Lösungsvorschlägen nicht zu erklären ist, bin ich gezwungen, die Einmaligkeit des Selbst oder der Seele auf eine übernatürliche spirituelle Schöpfung zurückzuführen. Um es theologisch auszudrücken: Jede Seele ist eine neue göttliche Schöpfung, die irgendwann zwischen der Empfängnis und der Geburt dem heranwachsenden Fötus ›eingepflanzt‹ wird.“

Ich persönlich habe meine Probleme mit einer solchen Interpretation, die ich in gewisser Weise als ein Scheitern empfinde, Dinge zu erklären. Wir haben es hier mit einem nicht sehr alten Forschungsgebiet zu tun, in dem endgültige Antworten eigentlich noch nicht gefragt sind. In diesem Sinne sollten wir uns weiter mit dem Thema beschäftigen.

Literatur

Anonym (1986) Lexikon der Biologie. Herder Vlg. 8 Bde.

Crick F. (1982) Life itself, its origin and nature. Macdonald & Co., London, 192 S.

Eccles J.C. (1999) Die Evolution des Gehirns - die Erschaffung des Selbst. Piper Vlg. München, 450 S.

Edelmann G. M. (1995) Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Piper Vlg., München, 396 S.

von Frisch K. (1965) Tanzsprache und Orientierung der Bienen. Springer, Berlin.

Gould J. L., Gould C. G. (1997) Bewusstsein bei Tieren. Spektrum Akademischer Vlg., Heidelberg, 266 S.

Griffin D. R. (1985) Wie Tiere denken. BLV, München

Hoyle F., Wickramasinghe C. (2000) Leben aus dem All. Vlg. Zweitausendeins, Frankfurt am Main, 272 S.

Luczak H. (2000) Signale aus dem Reich der Mitte. In: GEO 11/2000, 136-162.

Margulis L. (1993) Symbiosis in cell evolution. W. H. Freeman & Co., New York, 452 S.

[1]  Neben den Vögeln und Säugetiere waren aller Wahrscheinlichkeit nach auch die größeren Dinosaurier und die Therapsiden (eine ebenfalls ausgestorbene säugetierähnliche Reptiliengruppe) Warmblüter.